Arbeitshilfe zur einheitlichen Umsetzung der Versorgungsmedizin-Verordnung
(VersMedV, Nr. 3, Teil B: Punkte 3.5, 3.6, 3.7 und 3.8) bei der Beurteilung
psychischer Gesundheitsstörungen im Erwachsenenalter
der
versorgungsmedizinisch tätigen Psychiater: innen bzw. Sachverständigen der Länder
Allgemeines zur Beurteilung
in der Regel: je umfangreicher die bestehenden psychosozialen Hilfen, desto ausgeprägter die Erkrankung
CAVE / _ zur Beachtung: fehlendes Krankheitsgefühl und mangelnde Therapiemotivation nicht zwingend Hinweise auf geringe Ausprägung der Erkrankung (z. B. bei mangelnder Krankheits- und Behandlungseinsicht als Ausdruck der Krankheit).
Argumentationshilfe / Legitimation (ICD-10 / ICD-11; AWMF-Leitlinien; langjährige gutachtliche und klinische Erfahrungen)
Zu beachten sind wesentliche, objektivierte Einschränkungen in den Teilhabe-Bereichen Selbstversorgung, Beruf/Arbeit, Mobilität, Interaktion/Kontakte und Freizeit/Aktivität unabhängig von der psychischen Gesundheitsstörung.
Leichtere Störungen (GdB 0 – 20)
leichte Symptomatik ohne erkennbare Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit
GdB 20: z. B. gelegentliche Behandlung (etwa alle 1-2 Monate) beim Haus- oder Facharzt (z. B. stützende Gespräche, Bedarfsmedikation); psychiatrische und/oder psychotherapeutische Behandlung empfohlen; gelegentliche Fehlzeiten bei der Arbeit; intakte soziale/familiäre Beziehungen
Stärker behindernde Störungen (GdB 30- 40)
Indikation zur regelmäßigen psychiatrischen und/oder psychotherapeutischen Behandlung (etwa alle 1-2 Wochen) eindeutig gegeben (Orientierung: bei ambulant eher GdB 30; bei stationär eher GdB 40)
oft begleitende regelmäßige Psychopharmakotherapie in ausreichender Höhe
sozialer Rückzug, Veränderung im Nachgehen von Hobbies/Aktivitäten durch Erkrankung (nicht durch finanzielle Engpässe, Pandemie o. ä.)
gestörte oder schwierige zwischenmenschliche Beziehungen durch die Erkrankung
zusätzliche somatische Beschwerden stärker vorhanden (z. B. funktionelle Herz-/Kreislaufstörungen oder gastrointestinale Störungen, Schlafstörungen, schmerzhafte Verspannungen)
gehäufte Fehlleistungen / kognitive Beeinträchtigungen (z. B Termine vergessen, nachlassende
Leistungsfähigkeit auf der Arbeit), die nicht der möglichen intellektuellen oder lebenspraktischen Intelligenz entsprechen
GdB 30: längere und häufigere Fehlzeiten auf der Arbeit
GdB 40: relevante Gefährdung der Erwerbsfähigkeit oder Arbeitsunfähigkeit über 6 Monate
Erwerbsminderungsrente allein bedeutet noch nicht „mittelgradige soziale Anpassungsschwierigkeiten“. Durch die seelische Störung müssen auch erhebliche soziale Probleme in anderen Teilhabe-Bereichen (s. o.) vorliegen (vgl. VersMedV Teil A, Nr. 2 a und b).
Schwere Störungen mit mittelgradigen
sozialen Anpassungsschwierigkeiten (GdB 50- 70)
häufige und/oder längere voll- oder teilstationäre Behandlungen im Jahr
Indikation für durchgehende und höherfrequente ambulante psychiatrische [z. B. Psychiatrische Institutsambulanz (PIA, s. u.), etwa alle 1-3 Wochen] und/oder psychotherapeutische (etwa 1 x/Woche) Behandlung; i. d. R. auch Psychopharmakotherapie
hoch konflikthafte Beziehungen mit deutlichen Beeinträchtigungen der Integrations- und Anpassungsfähigkeit in Familie und Beruf
in schweren Fällen ggf. Bevollmächtigung oder gesetzliche Betreuung für einzelne Aufgabenbereiche
Eingliederungshilfe (z. B. Wohnheim/Werkstatt für psychisch Kranke, ambulant Betreutes Wohnen, weitere Unterstützungsleistungen) ermöglicht noch ausreichende soziale Integration, Alltagsstrukturierung nur mit großem Kraftaufwand oder mit externer Hilfe möglich
Schwere Störungen mit schweren sozialen
Anpassungsschwierigkeiten (GdB 80- 100)
sehr selten, vor allem in Ausprägung GdB 90 – 100, soziale Isolierung, vorwiegend professionelle Kontakte
erhebliche Schwierigkeiten aufgrund der Compliance eine adäquate psychiatrische Behandlung
durchzuführen (häufig nur ambulante fachärztliche, in der Regel psychopharmakologische Behandlung möglich)
häufig Bevollmächtigung oder gesetzliche Betreuung für umfassende Aufgabenbereiche
nicht erwerbsfähig oder allenfalls Tätigkeit in Werkstatt für psychisch behinderte Menschen
trotz Unterstützung keine Integrierbarkeit in mehreren Lebensbereichen (Selbstversorgung,
Alltagsstrukturierung und -gestaltung, Arbeit, Kontakte, Mobilität, Freizeit), Notwendigkeit externer Hilfe in erheblichem Umfang (GdB 80 – 90) oder praktisch ständig (GdB 100)
bei alltagsrelevanten Orientierungsstörungen – mindestens GdB 80 (mit Merkzeichen G und B; vgl. Arbeitshilfe der Leitenden Ärztinnen und Ärzte aus April 2018)
(Analog zu VersMedV bei geistig behinderten Menschen: entsprechende Störungen der
Orientierungsfähigkeit sind vorauszusetzen, wenn die behinderten Menschen sich im Straßenverkehr auf Wegen, die sie nicht täglich benutzen, nur schwer zurechtfinden).
bei Hilflosigkeit im Erwachsenenalter: GdB 100 (mit Merkeichen H)
Grundsätzliches zu Psychosen
(z. B. Schizophrenie, schizoaffektive Störung)
gehören zu den schwersten psychischen Erkrankungen
meist rezidivierende / fluktuierende und chronische Verläufe
bereits nach erster akuter Krankheitsepisode bei ca. zwei Drittel der Betroffenen anhaltende Symptomatik („Residualsymptomatik“, unterschiedlich starke Ausprägung, schwer zu beeinflussen)
Residualsymptomatik: Beschwerden im Vgl. zu akuten Krankheitsepisoden in der Regel unspektakulärer und geprägt durch Sprachverarmung, Affektverflachung, Antriebs- und Interessenverlust, Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen, sozialen Rückzug und allgemein eingeschränkte psychische Belastbarkeit
in stark ausgeprägten Fällen schwere Persönlichkeitsveränderung und Verlust der eigenständigen Alltagsbewältigung bis hin zur Pflegebedürftigkeit
Funktionsfähigkeit hinsichtlich Ausbildung, Erwerbsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt und zwischenmenschlicher Beziehungen in der Regel beeinträchtigt
Begriffserklärung PIA:
Psychiatrische Institutsambulanz: In einer psychiatrischen Institutsambulanz (PIA) werden auf der Grundlage von 8 118 SGB V Patienten behandelt, die wegen Art, Schwere oder Dauer ihrer psychischen Erkrankung eine besonders intensive und komplexe krankenhausnahe Therapie benötigen. Versorgungsschwerpunkte sind die Behandlung schwer und chronisch Kranker im Rahmen der Nachsorge, aber auch Notfallpsychiatrie. Dieses Angebot ambulanter, multimodaler und multiprofessioneller Behandlung ermöglichen es, Krankenhausaufnahmen zu vermeiden oder zu verkürzen.